Tag 85-96 / Meile 1332-1600: Bear on the run

"Well, the night was falling as the desert world
began to settle down.
In the town they're searching for us everywhere
but we never will be found.
Bear on the run, Bear on the run."

Nach Wings

Nach meinem letzten Blogbeitrag wurde ich oft gefragt, ob ich jetzt ganz alleine auf dem Trail bin. Ich muss sagen: Von Einsamkeit herrscht keine Spur! In Chester übernachte ich, wie so viele andere Hiker, im Garten der Lutheran Church. Hier herrscht richtige Klassenfahrtsstimmung. Ich treffe Pants und ein paar andere Bekannte wieder, außerdem lerne ich Salmon kennen, der sein Zelt neben meinem aufgestellt hat. Salmon hat mal als Lachsfischer in Alaska gearbeitet, wir verstehen uns also direkt super und gehen am Abend mit seiner gesamten Clique zusammen essen. Als ich zurück komme, treffe ich Gargoyle, Happy Feet und Surge wieder, worüber ich mich sehr freue. Wir verquatschen den ganzen Abend auf der Veranda und viel zu spät lande ich schließlich im Bett. Auch beim Frühstück im Café am nächsten Tag treffe ich wieder bekannte Gesichter – unter anderem Bomber, den wir in den High Sierras kennen gelernt hatten. Doch gegen 11 Uhr geht es erst einmal zurück in die Wälder: in den Lassen Volcanic National Park.

Nach 19 Meilen erreiche ich die Drakesbad Guest Ranch: ein abgelegenes Ferienresort mit einem Pool, der von natürlichen heißen Quellen warm gehalten wird. Für PCT Hiker gibt es die Möglichkeit dort zu baden, wenn man im Resort essen geht. Das lasse ich mir nicht zwei Mal sagen und so verbringen Bomber, ein paar andere Hiker und ich den Abend auf der Ranch. Nach dem Abendessen weichen wir unsere Körper im heißen Pool ein und lassen den Abend mit ein paar kalten Bier ausklingen. Was für ein Luxus. Da kommt es mir überhaupt nicht mehr wie auf einem Thruhike vor!

Ich fühle mich fit und beschließe mich selbst ein bisschen herauszufordern: Bis zum nächsten Ort – Burney – sind es noch 62 Meilen – eine Strecke, die ich in zwei längeren Tagen gut schaffen kann. Am nächsten Tag stapfe ich also zielstrebig los. Ich fliege fast über den Trail und freue mich über meinen ersten 30-Meilen-Tag. Einige Zeit später komme ich an einem Campingplatz vorbei und bin ganz überrascht, so viele Menschen und Autos hier zu sehen. Ich werfe also einen Blick auf die Karte und orte mich per GPS.

Wer „Around the World“ von den Red Hot Chili Peppers kennt, ruft sich jetzt bitte mal die ersten 30 Sekunden dieses Liedes ins Gedächtnis (kleine Stütze: HIER). So ungefähr geht es in meinem Kopf ab, als ich realisiere, dass ich 2,5 Meilen in die falsche Richtung gelaufen bin! Eine Stunde weg vom Trail, mit Rückweg macht das zwei Stunden umsonst! Ich stelle die Musik auf meinem Handy auf extra laut und renne fast zurück zum Trail, während Anthony Kiedis, Dave Grohl und Co. mir in die Ohren schreien. Als ich mittags an einem Bergsee ankomme, habe ich nur acht PCT-Meilen geschafft – und ärgere mich extrem. Immerhin treffe ich hier auf Pants, meine neue Freundin Waterfall sowie ein paar andere Hiker und kann mich im kühlen Wasser abreagieren.

Weiter geht’s – und weil ich stur bin, laufe ich an diesem Tag dann tatsächlich 32 Meilen – davon jedoch leider nur 27 auf dem PCT. Am nächsten Morgen überquere ich einen Highway, an dem es ein Café gibt. Im JJ’s frühstücke ich mit Heaps, Neo, Stuckontheground und Waterfall, als eine Frau den Laden betritt, uns ihre Karte hinlegt und erzählt, dass sie direkt am Trail wohne und wir bei ihr duschen und Wäsche waschen können. Wir danken ihr für die Einladung und stecken die Karte ein.

Als ich mein Frühstück am Tresen bezahle, liegt dort ein Schild auf dem vor einem Puma gewarnt wird, der bereits andere Hiker auf der nächsten Passage verfolgt hat. Gut zu wissen! Wieder viel zu spät ziehe ich los über die Hat Creek Rim, ein 30 Meilen langer, trockener Abschnitt ohne Schatten. Die Tage werden immer heißer, so sind es mittags bereits rund 38 °C. Mein innerer Eisbär ist gar nicht begeistert.

Den ganzen Tag lang läuft mir der Schweiß in Strömen über Gesicht und Körper. Um 17 Uhr fühle ich mich, als ob ich bereits 30 Meilen hinter mir habe und ärgere mich, als ich feststelle, dass es gerade mal 15 sind. Meine Füße sind in der Hitze angeschwollen und entwickeln neue Blasen. Und zu allem Überfluss – ich will ja nichts beschönigen – habe ich mir die Haut zwischen den Pobacken wund gelaufen und es brennt höllisch. Nach 20 Meilen kann ich keinen Schritt mehr laufen und schlage frustriert mein Zelt auf. Ein absoluter Tiefpunkt. Meine 30-Meilen-Challenge war der totale Reinfall!

Um der Hitze zu entgehen, beschließe ich ab jetzt nachts zu wandern. Ich stehe also um 3:30 Uhr auf und packe im Licht der Stirnlampe meine Sachen zusammen. Um mich herum raschelt und knackt es. War das der Puma? Die nächsten Stunden auf dem Trail schaue ich minütlich über meine Schultern zurück, um eventuelle Großkatzenaugen zu erspähen. Als um halb sechs die Sonne aufgeht, bin ich dann doch ein wenig erleichtert.

Um 10 Uhr habe ich bereits 14 Meilen geschafft und erreiche die Straße, die nach Burney führt. Meine Anlaufstelle in diesem Ort wird die „Word of Life Church“ sein, die PCT Hiker in ihrem Gemeindezentrum aufnimmt. Lustigerweise ist meine Mitfahrgelegenheit Carrie sogar ein Mitglied der Gemeinde und lässt mich direkt an Ort und Stelle heraus. Hier kann ich duschen und nach einem Ausflug in den Supermarkt halte ich einen erholsamen Mittagsschlaf in der Halle, die wir nutzen dürfen – genau wie einige andere Hiker …

Um 16 Uhr holt mich Carrie ab und bringt mich zurück zum Trail – mal wieder aus purer Nettigkeit. Ich schaue mir die nahegelegenen Burney Falls an und treffe im Wald auf Stuckontheground. Sie hat die Frau aus dem Café am Vortag angerufen, die uns zum Übernachten eingeladen hat. Stuckontheground sagt, dass ich auch kommen solle – und ich willige ein. Das Haus von Janelle und Mark liegt eine Meile weg vom Trail und während ich die Schotterstraße entlang gehe, hoffe ich, dass sich der Umweg lohnt. Und wie er sich lohnen sollte … Es stellt sich heraus, dass Janelle und Mark ein Ferienresort betreuen – ein kleines Paradies auf Erden, das an einem schönen See mitten im Wald gelegen ist. Es ist ein bisschen wie Urlaub bei Oma und Opa: Als ich ankomme, steht Mark bereits am Grill und Janelle drückt uns kühle Getränke in die Hand. Heute Nacht sind zwei Zimmer im Resort frei, die wir umsonst bewohnen dürfen. Kurz nach mir treffen auch Heaps, Neo, McGyver und Drippy ein, die genauso herzlich willkommen werden wie Stuckontheground und ich.

Nach dem leckeren Abendessen sitzen wir noch lange zusammen und erzählen Geschichten. Janelle drückt uns eine Tonne Essen für’s Frühstück in die Hand und dann fallen wir todmüde ins Bett. Am nächsten Morgen bereiten wir uns ein kleines Schlaraffenland mit Obstsalat, French Toast, Rührei, Brötchen und Würstchen – bevor wir mit den hauseigenen Booten eine Runde auf dem See drehen.

Eigentlich wollte ich schon längst losgewandert sein, doch in der Hitze mag ich diesen Ort einfach nicht verlassen. Wir verbringen den Tag also essend, spielend und dösend im Schatten und erst nach dem Abendessen fährt Mark mich schließlich zurück zum Trail. Ich bin nach wie vor überwältigt von der unglaublichen Gastfreundschaft der beiden. Dieser Tag war mit die schönste Erfahrung auf dem ganzen PCT.

Um halb acht befinde ich mich gut erholt und mit vollem Bauch zurück auf dem Trail. Ich wandere in der milden Dämmerung bis die Sonne untergeht – und weiter. Merkwürdig, denke ich nach einer Weile: In Deutschland würde ich nie nachts alleine durch den Wald wandern. Hier macht es mir nichts aus. Aber als ich dann um 23 Uhr mein Zelt aufbaue, die Ohrenstöpsel einstecke und die Augen schließe, bin ich doch ganz froh, die Dunkelheit um mich herum auszublenden. Um vier Uhr wache ich auf und höre lautes Donnern. Ein Gewitter! Ich werfe schnell das Außenzelt über und ziehe mich wieder zurück. Da sehe ich helles Licht im Himmel: Blitze! Nervös fange ich an, die Sekunden zwischen Blitz und Donner zu zählen. Kommt das Gewitter näher? In diesem Moment verspüre ich das erste Mal Angst auf dem Trail. Denn einem Blitz kann ich hier nicht ausweichen. Ich zähle noch fast eine Stunde weiter, dann stehe ich auf und packe meine Sachen zusammen.

Die nächste Challenge wartet auf mich: Ich habe mir neue Socken und eine neue Kartusche für meinen Wasserfilter nach Etna bestellt – und dabei ganz vergessen, dass die Post am Wochenende geschlossen hat. Statt wie geplant am Samstag dort anzukommen, versuche ich jetzt also am Freitag vor fünf in der Post zu sein. Das heißt: Ich muss sechs Tage lang durchschnittlich 28,5 Meilen, also knapp 46 km pro Tag, schaffen.

Waterfall nutzt die Mittagspause

Die Tage sind immer noch heiß und meine Füße machen weiter Probleme. Am Tag meines dritten Trailmonat-Jubiläums hat sich dann eine richtig dicke Blase unter meinem rechten Fuß, direkt auf dem Ballen, gebildet. Die letzten sechs Meilen des Tages schaffe ich nur mit einer Portion Ibuprofen.

Immerhin finde ich langsam in meinen Rhythmus zurück – der war ja durch Nero Days und Nighthiken so gut wie nicht mehr vorhanden. Ich wache also wieder zum Sonnenaufgang auf und werde meistens mit einer wunderschönen Aussicht belohnt.

Dann laufe ich bis zum Sonnenuntergang und freue mich über die Abkühlung am Abend. So schaffe ich 31, 32 Meilen jeden Tag. Am Freitag habe ich schließlich nur noch 20 Meilen zu laufen, bin um 15:30 Uhr in Etna und kann mein Paket in Empfang nehmen. Ich bin platt, aber glücklich: Wenigstens die zweite Herausforderung habe ich geschafft. Und ich bin im Club der 30-Meilen-Wanderer angekommen! Ab jetzt, so sagt man, werden wir immer schneller. Und in ein paar Tagen werde ich dann Kalifornien verlassen und über die Grenze nach Oregon ziehen – ein weiterer Schritt Richtung Kanada. Icebear on the run!

Hier gibt’s das Video: https://youtu.be/KyI2PcylECw


7 Gedanken zu “Tag 85-96 / Meile 1332-1600: Bear on the run

  1. Das ist echt sehr spannend zu lesen und macht Lust aufs Wandern in der Natur ohne Menschen.. aber ein paar Tage reichen 😉

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  2. … und dann wundere ich mich immer wieder, wie Du bei diesen Anstrengungen den Elan findest alles so ausführlich und darüber hinaus so spannend zu berichten! Respekt auch dafür!!!

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